Antijudaismus in J.S. Bachs Matthäus- und Johannes-Passion

Antijudaismus in J. S. Bachs Matthäus- und Johannespassion?

Ein Beitrag für das Programmheft

Von Hanna Lehming

Der folgende Beitrag regt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem anklingenden Antijudaismus in den Passionsmusiken an. Er kann im Programmheft abgedruckt und/oder in Auszügen für einen einführenden Vortrag vor der Aufführung verwendet werden.

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Bild: Matthias Grünewald [Public domain], via Wikimedia Commons

Antijudaismus in J. S. Bachs Matthäus- und Johannespassion?

Beim Stichwort Antijudaismus horcht heute jeder auf. Sofort drängen sich Bilder auf, die zeigen, wohin die Judenfeindschaft im 20. Jahrhundert geführt hat. Ist es aber berechtigt, die nach Ansicht Vieler alles übertreffende, himmlische Musik eines Johann Sebastian Bach mit dem Verdacht der Judenfeindschaft zu belegen? Dass Bach in Person ein Judenfeind gewesen sei, lässt sich nicht nachweisen. In seinen Passionsoratorien jedoch hat er Feindseligkeit der „Jüden“ gegen Jesus musikalisch sehr stark ausgedrückt. Daher beschleicht einen beim Hören oder Singen mancher Passagen aus der Matthäus-  wie besonders aus der Johannespassion heute ein gewisses Unbehagen.

Um welche Passagen geht es?


„Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“, fordert der Chor in der Matthäuspassion. Die synkopische Struktur gibt der Musik Schwung, dauernd springen die widerspenstigen Juden aus dem geraden Takt, der Vier-Vierteltakt unterstreicht die Worte gleichzeitig wie mit hämmernden Schlägen und drängt vorwärts.

Und auch beim Singen der Passagen „Nicht diesen, sondern Barrabam!“ oder „Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn!“ aus der Johannespassion ist aggressive Schärfe von den Sängern verlangt. Angemessen wäre es auch, wenn der Chor die Ironie in den Worten „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“ nachvollzieht, so dass aus dem schwingenden Gang des Dreivierteltakts die hämischen Verbeugungen heraus zu hören sind. Die angebliche Hinterhältigkeit der Juden – hört man sie nicht ganz deutlich aus dieser Musik heraus?

Mit Verve wiederum soll der Chor die Passage vortragen: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz soll er sterben; denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.“ Starre Prinzipientreue und unbarmherzige Härte im unerbittlichen Viervierteltakt, die synkopische Struktur und das Alla Breve betonen die Worte: haben / Gesetz – dem / sterben. Wer mit „wir“ gemeint ist, ist aus dem Text der Rezitative ganz deutlich und wird immer wieder gesagt: die Juden. „Da sprachen die Juden zu ihm“ – „meine Diener würden kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde“ usw.

Manch einem bleiben die Worte oder Töne im Hals stecken, weil eben unser Jahrhundert allein schon hinsichtlich des Wortes „Juden“ so über alle Maßen belastet ist. Doch auch die Polemik gegen das „jüdische Gesetz“ hat im Christentum eine lange Tradition. Dabei hat das im Neuen Testament sog. „Gesetz“ im Judentum unendlich viele Facetten. Dass es zum Tode führt, dürfte zumindest dem Beter des 1. Psalms nicht in den Sinn gekommen sein: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen / noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern hat Lust am Gesetz des HERRN und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!“ Diesem Psalm und vielen anderen biblischen Texten zufolge ist „das Gesetz“ eine Hilfestellung für einen anständigen Lebenswandel und überhaupt der Inbegriff eines gottesfürchtigen Lebens. Dass „Gesetz“ nicht für alle Lebenssituationen eine hilfreiche Antwort sein kann, dass es einen Umgang mit dem „Gesetz“ gibt, dem ein Zug zur Unbarmherzigkeit innewohnen kann, das hat nicht etwa erst das Christentum erkannt, sondern wird im Judentum seit alters her reflektiert.  Die jüdische Gesetzespraxis mit „tödlich“ gleich zu setzen, ist völlig absurd.

Transportieren die Bach’sche Matthäus- und Johannespassion Judenfeindschaft?

Johann Sebastian Bach wäre nicht der Komponist, als der er weltweit verehrt wird, wenn es ihm nicht gelungen wäre, die Sprache des Textes in eine unvergleichliche Sprache der Musik zu übersetzen, zu interpretieren, zu konterkarieren, zu kommentieren. Die musikalische Interpretation der „Judenchöre“ tut wohl vor allem das erste: Interpretieren, übersetzen und dadurch natürlich auch verstärken. Die mit dem Text transportierten Heftigkeiten siedeln sich dadurch auch in unterbewussten Schichten des menschlichen Empfindens an. Daher sollten sich Hörende und Singende einige theologische und historische Umstände bewusst machen.

Evangelientexte und freie Stücke

Zuerst muss festgestellt werden: Alle Sätze oder Rufe, die im Verdacht stehen, Feindschaft gegenüber Juden zu transportieren, sind wörtliche Zitate aus dem Neuen Testament. Die freien Stücke hingegen – Choräle und Arien – lassen ganz andere Töne hören: Sie beziehen die Gläubigen in das Geschehen ein, lassen den Einzelnen seine Verstrickung ins Böse erkennen und klagen niemand anderen an:
 

  • „seht - wohin? - auf unsre Schuld“, singt der Chor in der Matthäuspassion oder
  • Ich bin's, ich sollte büßen“, dann natürlich der Choral:
  • „Was ist die Ursach' aller solcher Plagen, ach, meine Sünden haben dich geschlagen
    ich, ach, Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet.“
  • Und schließlich heißt es im Choral „Bin ich gleich von dir gewichen“:
    „Ich verleugne nicht die Schuld.“

Ganz ähnliche Passagen finden sich in den freien Stücken der Johannespassion:

  • Ich, ich und meine Sünden . . . die haben dir erreget das Elend, das dich schläget“
  • „wenn ich Böses hab getan, rühre mein Gewissen“
  • „o Mensch, mache Richtigkeit, Gott und Menschen liebe
  • „o hilf Christe, Gottes Sohn, …deinen Tod und sein Ursach, fruchtbarlich bedenken“.

Zur „Handlung“ gehören die Choräle nicht. Aber sie verstricken die Zuhörenden in das, was ihnen vorgetragen, besser: angetragen wird. Besonders über die Choräle bringt sich die Gemeinschaft der Zuhörenden ins Drama der Passion ein. So bilden die freien Dichtungen gleichsam einen Kontrapunkt zur Schärfe der anti-jüdisch wirkenden Evangelientexte. Während diese den Schluss zulassen (wollen), „die Juden“ hätten den Tod Jesu verursacht, erklären die freien Dichtungen klar: „Ich, ich und meine Sünden“ tragen hierfür die Schuld.

Judenfeindschaft in den Evangelien?

Die Evangelien spiegeln die Situation jener kleinen jüdischen Gruppe wider, die an Jesus als ihren Messias glaubte und dadurch in einen Konflikt mit ihren Volksgenossen geriet. Doch die Evangelien reflektieren nicht die historischen Umstände der Zeit Jesu, sondern die einer oder zwei Generationen danach, der Zeit, in der die Evangelisten schrieben. Die Abfassung des Matthäusevangeliums wird in die Zeit um das Jahr 80 n. Chr. datiert, die des Johannesevangeliums um das Jahr 90 n. Chr.

Diese zeitliche Differenz könnte allerdings eine erhebliche Rolle spielen. Das Judentum war nämlich durch die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. in eine echte Identitätskrise geraten. Und gleichzeitig trat eine andere Gruppierung auf die Bühne der Weltgeschichte, die ebenfalls aus dem Judentum kam, die jedoch in Jesus ihren Messias sah: die Christen. Das bis dahin im Judentum vorhandene breite Spektrum von Richtungen verschwand nun komplett, bis auf zwei Gruppen: die Pharisäer und die Jesusgemeinde. Beide Gruppen wurden zu scharfen Kontrahenten. Diese spätere Konstellation projizieren die Evangelien oftmals in die Lebenszeit Jesu, wodurch eine scharfe Polemik entsteht.

Polemik und Schärfe hört man verständlicherweise besonders in den Passionserzählungen, wo es um Leben und Tod geht. Von Markus (wahrscheinlich das älteste) bis zu Johannes (wahrscheinlich das jüngste Evangelium) stellt man eine wachsende Belastung der Juden als der am Tod Jesu Schuldigen fest und gleichzeitig eine wachsende Entlastung des Römers Pilatus. Historisch steht fest: Die Kreuzigung war eine römische Strafe, keine jüdische, und ihr Vollzug allein den Römern vorbehalten.

Wer sind „die Juden“ im Johannesevangelium?

Bibelwissenschaftlich ist es heute unbestritten, dass Johannes mit „hoi judaioi“ („die Juden“) die jüdische Führungsschicht meint und nicht etwa das ganze jüdische Volk. Diese jüdische Führungsschicht bestand aus dem Hohepriester, den Ältesten sowie Angehörigen des Stadtadels. Da es zur Zeit Jesu schon lange keinen jüdischen Staat mehr gab, waren sie für die innere Sicherheit zuständig. Offenbar hatte diese jüdische Obrigkeit im Auftreten Jesu unmittelbar vor dem Passafest, zu dem die Stadt von Pilgern überquoll, ein Sicherheitsrisiko gesehen. Um politischen Unruhen und dem bekanntermaßen brutalen Eingreifen der römischen Besatzung vorzubeugen, drängten sie auf eine lautlose Beseitigung Jesu (vgl. Johannes 11). Mehrmals in der Passionserzählung identifiziert Johannes diese jüdische Obrigkeit mit den Hohepriestern und ihren Dienern.

Der Evangelist Johannes berichtet also von einem innerjüdischen Konflikt zwischen Jesus und seiner Volksbewegung und der damaligen jüdischen Führungsschicht am Tempel. Spätere Generationen haben daraus einen jüdisch-christlichen Gegensatz konstruiert.

Fazit

Die Matthäus- und die Johannespassion sollten so aufgeführt und interpretiert werden, wie Bach es vermutlich gemeint hat und wie seine Musik die Texte interpretiert.

Das empfundene Dilemma, Gefühle des Unbehagens, können nur durch Information, Aufklärung und Reflexion über die Hintergründe vor allem des neutestamentlichen Textes aufgefangen werden. Über das Problem einfach hinwegzugehen, ist heute kein gangbarer Weg mehr.
 

Überblick

Zielgruppe: Konzertbesucher/innen, Musiker/innen

Alternative Zielgruppen: Gemeindeglieder

Einsatzgebiet: Programmheft oder einführender Vortrag

Material: Der Beitrag steht in verschiedenen Formaten zum Download bereit.

Hinweis zur Veröffentlichung dieses Beitrags

Bitte geben Sie bei der Veröffentlichung des Textes immer die folgende Quellenangabe mit an:

Hanna Lehming: Antijudaismus in J.S. Bachs Matthäus- und Johannespassion?, in: Sich besser verstehen. Christsein im Angesicht des Judentums. Impulse für Gottesdienst, Gemeindearbeit und Konfirmandenunterricht, Hannover 2016, 153ff., online unter http://www.arbeitshilfe-christen-juden.de/themen/gemeindearbeit/antijudaismus_bach

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Bild: Matthias Grünewald [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Autorin

Hanna Lehming ist Pastorin und Beauftragte der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland für den christlich-jüdischen Dialog.
(Stand: 2016)