Auflösung:
Das Motiv „Vergiften“ ist eines der traditionellen antijüdischen Stereotype und geht auf Anschuldigungen aus dem Mittelalter zurück, Juden würden Brunnen vergiften und damit für Pest und Seuchen verantwortlich sein. Außerdem wird Israel als alleiniger Schuldiger am Scheitern der Nahostfriedensgespräche dargestellt: Wenn Netanjahu nicht wäre und die Nahost-Friedens-Taube vergiften würde, könnte sie friedlich in der Umgebung leben. Hier wird das Existenzrecht Israels zumindest in Frage gestellt. Deutlicher noch ist die Dämonisierung (Israel bzw. Israels Regierungschef Netanjahu ist so gemein und skrupellos, dass es/er sogar unschuldige Tauben vergiftet) und es werden doppelte Standards angewendet, denn eine Schuld anderer Akteure im Nahostfriedensprozess wird nicht erwähnt.
Die grundsätzliche Kritik der Karikatur, dass der israelische Siedlungsbau im Westjordanland den Nahostfriedensprozess beeinträchtigt, ist natürlich legitim und wird so u. a. von den Vereinten Nationen auch verurteilt. Nur die Mittel, mit denen die Karikatur dies zu verdeutlichen sucht, weisen einige Merkmale von Antisemitismus auf.
Anhand der Besprechung der Karikatur soll deutlich werden: Antisemitismus ist mehr als stumpfe stereotype Charakterzuschreibung, wie die Jüdinnen und Juden seien, sondern sie äußert sich heute oft subtiler und tarnt sich z. B. als Kritik am Staat Israel.
2. Antisemitismus verstehen (Kurzreferat: 10 Minuten)¹
Antisemitische Äußerungen waren nach 1945 gesellschaftlich tabuisiert, doch die Stereotypen und Vorstellungen, die über Generationen von Kirche, Staat und Gesellschaft weitergetragen wurden, konnten natürlich nicht einfach aus den Köpfen der Menschen gelöscht werden. Schon bald fanden sich Artikulationsformen, wie Antisemitismus mehr oder weniger versteckt geäußert werden konnte, ohne dabei sofort als Antisemit/in verurteilt zu werden.
Um den heutigen Ausdrucksformen von Antisemitismus auf die Spur zu kommen, ist es notwendig, etwas von seiner Genese zu verstehen. Hier kann natürlich nur eine grobe Übersicht gegeben werden.
„Der Begriff 'Antisemitismus', der von politisch aktiven Judenfeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, ist der Linguistik entlehnt. Obwohl unter die sprachwissenschaftliche Definition von 'Semiten' Sprachen wie Hebräisch, Arabisch oder Aramäisch fallen, richtet sich der Terminus 'Antisemitismus' ausschließlich gegen Juden.“² Eine allgemein anerkannte Definition von Antisemitismus gibt es nicht, auch weil sich Antisemitismus in unterschiedlichen Formen ausdrückt. Eine übergreifende Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen Formen sehen die Verfasser/innen des Antisemitismusberichtes der Bundesregierung in der „Feindschaft gegen Juden aufgrund der angeblichen oder tatsächlichen Zugehörigkeit der jeweiligen Individuen oder Institutionen zum Judentum,“³ wobei 'Feindschaft' eine große Bedeutungsspanne von vorurteilsbelasteten Denkmustern bis zu physischen Vernichtung hat. Eine wichtige Komponente zur Wahrnehmung von Antisemitismus liefert Schwenke, indem er den ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Kramer, zitiert: „Wenn das Jüdischsein als qualifizierende oder disqualifizierende Eigenart dargestellt wird, da zumindest beginnt [Antisemitismus].“4
Der Göttinger Politikwissenschaftler Salzborn nennt fünf Artikulationsvarianten von Antisemitismus, die er gegenwärtig in Europa feststellt: religiös-antijüdischen, völkisch-rassistischen, sekundär-schuldabweisenden, antizionistisch-antiisraelischen und arabisch-islamischen Antisemitismus.5
Der religiös-antijüdische Antisemitismus (Antijudaismus) ist die älteste Artikulationsform von Antisemitismus. Sie ist christlich motiviert und richtet sich zunächst gegen das Judentum als Religion. Viele antisemitische Bilder und Stereotype stammen aus dem christlich-antijüdisch geprägten Mythenkontext (z. B. Brunnenvergifter/Seuchenbringer; Kindermörder, um deren Blut für religiöse Praktiken zu gebrauchen; Christus-/Gottesmörder).6
Der völkisch-rassistische Antisemitismus entstand ungefähr im 16. Jahrhundert und unterscheidet sich darin vom Antijudaismus, dass ihm zufolge Jüdinnen und Juden durch die Konversion zum Christentum die ihnen zugeschriebenen negativen Eigenschaften nicht verlieren, sondern unweigerlich mit ihnen verbunden bleiben – die Taufe hilft nicht. Negative Charaktereigenschaften und Wesenszüge – so das Denkmuster – sind quasi in ihrem Gen-Pool verankert, so dass Jüdinnen und Juden gar nicht anders könnten als unstetig durch die Welt zu wandern, sich hinterlistig durch Handel und Wucher zu bereichern und im Hintergrund Verschwörungen zur Weltübernahme durch Kapitalismus, Kommunismus oder Zionismus einzufädeln.
Nach der Shoah tritt in Deutschland ein Mantel des Schweigens über das Thema Antisemitismus. Antisemitische Äußerungen im öffentlichen Leben werden geächtet und tabuisiert, aber eine Aufarbeitung des Themas findet nur sehr vereinzelt statt. Doch das antisemitische Gedankengut verschwindet nicht auf Knopfdruck aus den Köpfen der Menschen und wird ab 1945 im sekundären-schuldabwehrenden Antisemitismus sichtbar. Die stereotypen Zuschreibungen bleiben die gleichen, doch es kommt hinzu, dass die Frage nach der eigenen Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus und im Besonderen der Shoah relativiert wird. So äußert sich diese Form des Antisemitismus z. B. in rechtsextremen Gruppierungen durch eine geschichtsrevisionistische Lesart (Leugnung des Holocaust, Bagatellisierung der Verbrechen der Nationalsozialisten). Die linksextreme Seite äußert Antisemitismus z. B. durch Unterstützung völkischer Bewegungen, die als marginalisiert oder unterdrückt verstanden werden, wie zum Beispiel die Palästinenser/innen. Und die politische Mitte z. B. durch Ablehnung der moralischen und politischen Verantwortung für Nationalsozialismus und Shoah, inklusive finanzieller Zahlungen an den Staat Israel."7 Natürlich sind nicht alle Aussagen aus diesen Bereichen, z. B. das Eintreten für die Palästinenser_innen, per se antisemitisch, doch haben sich in Äußerungen der genannten Gruppen zu den spezifischen Themen beispielhaft immer wieder antisemitische Stereotype gezeigt.
Seit es den Staat Israel gibt, verstärkt aber ab den 1970er Jahren, äußert sich Antisemitismus auch in Form eines antizionistisch-antiisraelischen Antisemitismus. Die Stereotypen, die vorher den Jüdinnen und Juden zugeschrieben wurden (z. B. Christusmörder/innen, Weltverschwörer/innen, Weltbrandstifter/innen) werden als Umwegskommunikation nun dem Staat Israel zugeschrieben (z. B. Bedrohung des Weltfriedens, Inkaufnahme eines 3. Weltkrieges) und äußern sich in dem Bestreben, den Staat Israel zu kritisieren. Dass es diese antisemitisch gefärbte Form der Israelkritik gibt, bedeutet nicht, dass der Staat Israel nicht kritisiert werden darf. Es bedeutet aber, dass bei einer Kritik des Staates Israel darauf geachtet werden muss, dass er nach den gleichen Maßstäben beurteilt wird wie jeder andere Akteur im Nahost-Konflikt oder wie jeder andere Staat in der Welt auch. Gradmesser für Kritik am Staat Israel sind die „3 Ds“: Delegitimation (Absprechen des Existenzrechtes des Staates Israel), Dämonisierung (z. B. Vergleich des Staates Israel mit dem Dritten Reich) und doppelte Standards (Werden andere Staaten bei gleicher Politik genauso kritisiert wie Israel?). Trifft eines oder mehrere dieser Ds auf die Kritik am Staat Israels zu, ist sie antisemitisch.8
3. Antisemitismus erkennen (Gruppenarbeit: 30 Minuten)
Auf Grundlage des Kurzreferates sollen nun Forenkommentare aus dem Internet gemeinsam angeschaut und auf Antisemitismus untersucht werden. Es werden einige Beispiele vorgelegt, die in Kleingruppen oder in der Gesamtgruppe diskutiert werden können – entweder per Beamer an eine Leinwand geworfen oder auf Papier ausgedruckt verteilen.