Viel besser als ihr Ruf: Schriftgelehrte und Pharisäer

Viel besser als ihr Ruf: Schriftgelehrte und Pharisäer

Überwindung des Antijudaismus

Von Volker Menke

Durch eine differenzierte, wertschätzende Darstellung von Schriftgelehrten und Pharisäern in Nacherzählungen der Evangelientexte kann ein Beitrag zur Überwindung des häufig noch vorhandenen Antijudaismus geleistet werden.

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Foto: Michaela Pschorr/fotolia.de

1.    Einführung: Zum theoretischen Hintergrund von Antijudaismus im Neuen Testament und in Kinderbibeln


Die folgenden Informationen können als Impulsreferat für ein Fortbildungsseminar für Personen, die mit der Weitergabe von biblischen Texten befasst sind, verwendet werden, und/oder Interessierten als Lektüre dienen.

1.1.    Problemanzeigen


Bei einer Fortbildungsveranstaltung für Lektor/inn/en und Prädikant/inn/en zum Thema „Texte predigen im Angesichte Israels“ stellte ich die Frage: „Was können Sie positiv zu Schriftgelehrten und Pharisäern sagen?“ Die Antwort darauf war ein beredtes Schweigen. Und so dürfte es vielen Anderen auch gehen. Positives käme kaum in den Sinn; umso mehr könnte man negative Eigenschaften und Dinge in Bezug auf Schriftgelehrte und Pharisäer nennen, die wohl in die Richtung gingen: „streng“, „kleinkariert“, „heuchlerisch“, „gesetzlich“, „feindlich gesonnen gegenüber Jesus und seiner Anhängerschaft“.

Auch in Predigten und Gesprächen zur Bibel werden sie oft als die Gegner und Feinde Jesu dargestellt; man hat den Eindruck, als stünden sie als geschlossener und böswilliger Block Jesus gegenüber. Schon Kindern wird ein solch negativer Eindruck vermittelt, nicht zuletzt durch die Darstellung von Schriftgelehrten und Pharisäern in Kinderbibeln. In einer heißt es unter der schwarz-weiß-malerischen Überschrift „Freunde oder Feinde?“ mit Bezugnahme auf Lk 5 zum Beispiel: „Sie hielten sich an über sechshundert besondere Regeln. Regeln, in denen es darum ging, sich rein zu halten, die Gesellschaft von schlechten Menschen zu meiden und am Sabbat, dem Ruhetag, keine Arbeit zu tun. Die Pharisäer waren sehr streng, und manche von ihnen waren stolz auf ihr vorbildliches Leben. Es gefiel ihnen gar nicht, wenn Jesus ihnen sagte, sie sollten ihre Sünden bereuen. Sie waren ja schließlich nicht irgendwer! Und es gefiel ihnen auch nicht, dass die Menschen Jesus nachliefen, statt sich ihre Predigten anzuhören.“ ¹

Und in einem religiösen Kinderbuch zur Ostergeschichte heißt es neben den Priestern zu den Schriftgelehrten: „Die Priester und Schriftgelehrten aber ärgerten sich sehr über Jesus. ‚Es ist nicht wahr, was er von Gott erzählt‘, empörten sie sich. ‚Gott liebt nur die Frommen und Reichen und Klugen. Solche wie uns. Uns liebt er. NUR UNS. Weil wir viel beten und Geld spenden und alle Gesetze einhalten, die in den Heiligen Schriften stehen.‘“ ²

Durch solche verallgemeinernde, negative und herabwürdigende Darstellungsweise läuft schon religiöse Erst-Literatur für Kinder Gefahr, auch zur Erst-Quelle antijüdischer Einstellungen zu werden. Denn die negative Beschreibung und Charakterisierung von Schriftgelehrten und Pharisäern dürfte in vielen Köpfen das Bild zu Juden und Judentum mit beeinflussen und mit prägen.

1.2.    Historische Hintergründe


Dabei war und ist das Judentum vielgestaltig und vielfarbig. Zur irdischen Zeit Jesu gehören zu ihm als Gruppierungen Pharisäer, Zeloten, Essener, die vor allem aus Angehörigen der Oberschicht gebildete aristokratisch-priesterliche Gruppierung der Sadduzäer und Samaritaner.3  Zwischen ihren Lehren und Überzeugungen gab es Übereinstimmungen und Schnittmengen, aber auch Abgrenzungen und teilweise hart ausgetragene Konkurrenz. Und auch innerhalb der jeweiligen Gruppierung dürfte es unterschiedliche Auffassungen, Schwerpunktsetzungen und Differenzen gegeben haben. Zu diesem vielgestaltigen und vielfarbigen Bild des Judentums gehören auch Jesus und seine Bewegung.

Der Begriff „Pharisäer“ bedeutet wohl „Abgesonderte“, allerdings ist nicht Absonderung von Menschen gemeint, sondern von einer Lebensweise, die dem Heilswillen Gottes nicht entspricht.4  Die pharisäische Bewegung war durch das Kleinbürgertum und die städtische Mittelschicht getragen.5  Vor allem Handwerker und Kaufleute gehörten ihr an. Ihre Mitglieder wandten „sich gegen die zunehmende Hellenisierung des jüdischen Lebens“. „Deshalb beachteten sie im täglichen Leben freiwillig bestimmte Reinheitsvorschriften und andere Verpflichtungen, die sich aus der Thora und aus deren mündlicher Auslegung“ ergaben.6  In religiösen Inhalten vertraten Pharisäer Anschauungen des Mehrheitsjudentums: Dazu gehörte der Glaube „an die kommende Welt und die Auferstehung der Toten am Ende der Tage“, an die Existenz einer „Engel- und Geisterwelt“ und an den freien Willen und damit die Verantwortlichkeit des Menschen, auch wenn alles Geschehen eingebettet ist in die Vorsehung Gottes.7

Vor allem ging es der pharisäischen Bewegung in Auslegung der Tora (im engeren Sinne die Bücher 1.-5. Mose) um die „Heiligung“ des ganzen Volkes gemäß 2. Mose 19,6: „Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.“8  Gott hat sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten befreit. Als Antwort darauf geht es nun darum, in der Gestaltung des Lebens danach zu trachten, die Zugehörigkeit zum befreienden Gott so gut wie möglich darzustellen und widerzuspiegeln. Dieser Zielsetzung dienen nicht zuletzt die Gebote und Verbote der Tora und ihre Auslegung auf den konkreten Alltag hin (mündliche Tora). Damit waren Pharisäer gerade keine „Rigoristen“. „Ihre Art von Tora-Auslegung war vielmehr durchaus pragmatisch auf das Mögliche bedacht“ und konnte damit als menschenfreundlich erlebt und bezeichnet werden.9

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1.3.    Differenzierung

Darüber, wie Heiligung des Volkes auszusehen habe und zu gestalten sei, gab es zwischen den verschiedenen Gruppierungen durchaus unterschiedliche Ansichten, verbunden mit Diskussionen, Lehr- und Streitgesprächen. Auch innerhalb einer Gruppierung konnte es unterschiedliche Ansichten geben. Bei den Gesprächen und Diskussionen kam den Toragelehrten/Schriftgelehrten, die in den heiligen Schriften durch Werdegang und Ausbildung besonders bewandert waren, auch eine besondere Rolle zu. Sie fungierten als Exegeten, Pädagogen und Juristen, nicht zuletzt „durch ihre Lehrtätigkeit in den Synagogen“.10

Schriftgelehrte gab es nicht nur in der pharisäischen Bewegung, aber da „Konzentration auf die Tora“ wesentliches Element „in Lehre und Leben der Schriftgelehrten“ war, bestand damit eine besondere Nähe zu den Pharisäern mit deren Tora-Konzept, das die Heiligung des Volkes zum Ziel hat.11

1.4.    Historische Kontextualisierung der Polemik

Schriftgelehrte Diskussion gehörte und gehört zum Wesen des Judentums. So diskutieren, wie die Evangelien zeigen, auch Jesus einerseits und Schriftgelehrte und Pharisäer andererseits als Juden miteinander über Fragen zu Gott, Gottesherrschaft und Tora. Dabei kommen aus der Sicht der Evangelien Schriftgelehrte und Pharisäer zu allermeist nicht gut weg. Ihr Wesen ist wiederholt negativ dargestellt und auch in ihrer lehrmäßigen Position ziehen sie den Kürzeren.

Es ist dabei aber unbedingt zu beachten, dass die Evangelien nicht nur Überlieferungen aus der Zeit des irdischen Wirkens Jesu beinhalten, sondern auch „durch die Brille“ ihrer jeweiligen Zeit geschrieben sind, also in einem Zeitraum von rund 40-70 Jahren nach Jesu Auftreten in Palästina. Sie spiegeln damit die zunehmend härter und bitterer werdende Konkurrenzsituation zwischen Menschen, Gruppen und Gemeinschaften wider, die an Jesus als Auferstandenen und Messias/Christus glauben, und solchen, die es nicht tun (können). Anders gesagt: Die Evangelien spiegeln die Konkurrenzsituation wider zwischen der werdenden christusgläubigen Kirche, zu der immer mehr Menschen aus den Völkern („Heiden“), aber immer weniger Juden gehören, und dem nicht-christusgläubigen Judentum. Aus der Sicht der christusgläubigen Kirche werden dabei die Schriftgelehrten und Pharisäer zu Repräsentanten des Judentums, das den Glauben an Jesus als Messias ablehnt und damit auch in seiner Lehre „falsch liegt“. Diese einseitige Sicht findet Niederschlag in der Art und Weise, wie Schriftgelehrte und Pharisäer in den Evangelien dargestellt werden, nämlich zumeist negativ und Jesus gegenüber gegnerisch und feindlich eingestellt.

1.5.    Neuansatz: Wertschätzende Wahrnehmung


Doch die Wahrheit der einen Seite muss nicht die Wahrheit der anderen sein. Und so ist es notwendig und hilfreich, in einen Dialog einzutreten, um auch die Position der anderen Seite wahrzunehmen. Zum christlich-jüdischen Dialog gehört dabei auch, einen nicht verzerrten, sondern wertschätzenden Blick auf Schriftgelehrte und Pharisäer zu gewinnen. Dazu kann auch die Wahrnehmung beitragen, dass selbst im Neuen Testament sich noch Spuren einer differenzierten und positiven Sicht von Schriftgelehrten und Pharisäern finden. Jesus wird von Pharisäern zum Essen eingeladen (Lk 7,36; 14,1); Pharisäer leisten Jesus einen Freundschaftsdienst, indem sie ihn vor der Tötungsabsicht des Herodes warnen (Lk 13,31); ein Schriftgelehrter will Jesus nachfolgen (Mt 8,19); der Pharisäer Nikodemus sucht Jesus zum Gespräch auf und wirkt später an einer würdevollen, Respekt bezeugenden Grablegung mit (Joh 3,1(-21); 19,39); durch seinen weisen Rat nimmt der pharisäische Schriftgelehrte Gamaliel die vor den Hohen Rat gebrachten Apostel und letztlich die ganze Jesus-Bewegung in Schutz (Apg 5,34(-39)); zur an Jesus als Messias glaubenden Gemeinschaft in Jerusalem gehören auch Pharisäer (Apg 15,5); Paulus findet als Pharisäer vor dem Hohen Rat Unterstützung und Beistand durch die pharisäische Gruppierung im Gegenüber zur sadduzäischen (Apg. 23,6-9).12
Historisch stand Jesus außer Johannes dem Täufer keiner Gruppierung im damaligen Judentum so nahe „wie der pharisäischen Bewegung“.13

Das schönste Beispiel dafür im Neuen Testament ist das von gegenseitiger Sympathie getragene Lehrgespräch zwischen einem pharisäischen Schriftgelehrten und Jesus zur Frage des höchsten Gebotes in der Fassung von Mk 12,28-34.14

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2    Praxis

Wenn diese Einheit als Fortbildungsveranstaltung durchgeführt wird, könnten die folgenden Informationen für alle Teilnehmenden kopiert und anschließend gemeinsam diskutiert werden.

2.1.     Grundsätzliche Erwägungen

Wer immer Geschichten verwendet, in denen von Pharisäern und Schriftgelehrten die Rede ist, sollte Folgendes beachten:

  1. An sich ist „Schriftgelehrter“ kein negativer Begriff, aber im Denken Vieler ist er mit negativen Vorstellungen verbunden. So ist die Frage, ob man ihn durch alternative Begriffe ersetzen oder zumindest ergänzen oder erläutern sollte. Dafür bieten sich zum Beispiel „Toragelehrter“ oder „Toralehrer“ an. In Kinderbibeln, aber auch in kirchlicher Praxis findet sich immer wieder der Begriff „Gesetzeslehrer“. Er ist meines Erachtens unbedingt zu vermeiden, da er eine Verengung darstellt. Tora als Weisung ist mehr und anders als Gesetze und Regelungen rechtlicher Art. Und er steht im Kontext eines Denkens, das fälschlicherweise Judentum als „Gesetzesreligion“ und Christentum als „Gnadenreligion“ in Kontrast zueinander setzt.
     
  2. Immer wieder ist im Neuen Testament und in der Folge zum Beispiel in Nacherzählungen von Kinderbibeln pauschalisierend von den Pharisäern oder den Schriftgelehrten die Rede. Faktisch aber kann es sich jeweils immer nur um „einige“, „ein paar“ handeln. Das sollte dann aber auch differenziert zum Ausdruck gebracht werden.
     
  3. Wertschätzend sollte immer wieder das Grundanliegen der pharisäischen Bewegung und ihrer Schriftgelehrten zur Sprache gebracht werden: die Heiligung des Volkes, also durch die Gestaltung des Lebens in seinen jeweiligen Situationen die Zugehörigkeit zum befreienden Gott so gut wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Das ist doch letztlich auch unser Anliegen als Christinnen und Christen, auch wenn für unseren Begründungszusammenhang Jesus als Messias/Christus von besonderer Bedeutung ist.
     
  4. Wertschätzend ist auch die Diskussionsfreudigkeit in religiösen Fragen innerhalb der pharisäischen Bewegung und mit anderen Gruppierungen in den Blick zu nehmen. Es geht um ein existentielles Ringen um Wahrheit, bei dem natürlich jede und jeder seine bzw. ihre Meinung präsentieren und die anderen überzeugen möchte.
     
  5.  Auseinandersetzungen in diesem Zusammenhang, auch zwischen Pharisäern und Schriftgelehrten einerseits und Jesus und seiner Bewegung andererseits, sind als innerjüdische Konflikte, gewissermaßen als „Familienstreitigkeiten“ wahrzunehmen.15  Und ein Familienstreit kann deshalb besonders heftig ausfallen, weil die Beteiligten sich grundsätzlich auch besonders nahestehen.
     
  6.  Geschichten eines entspannten und positiven Verhältnisses zwischen Jesus und der Jesus-Bewegung auf der einen und Pharisäern und Schriftgelehrten auf der anderen Seite sind stark zu machen, auch als differenzierendes Gegengewicht zu Streitigkeiten.


Manche meinen, die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe seien christlichen Ursprungs. Doch beide stehen in der Tora. Und in der grundlegenden Bedeutung dieser beiden Gebote sind sich, wie Mk 12,28-34 zeigt, ein pharisäischer Schriftgelehrter und Jesus ganz und gar einig.

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 2.2.     Vergleich

Wenn die Einheit als Seminar gestaltet wird, wäre es lohnenswert, den Wortlaut dieser Passage aus verschiedenen Kinderbibeln mit dem biblischen Text zu vergleichen. Leitfragen könnten sein: Wie wurde der Schriftgelehrte hier dargestellt? Inwiefern wurde der biblische Text in den Nacherzählungen verändert?

Zu beachten ist allerdings, dass sich Mk 12,28-34 und damit die wohl positivste Darstellung eines Schriftgelehrten im Neuen Testament in der Regel nicht in Kinderbibeln findet! Von den drei Fassungen, in denen in den Evangelien die Thematik des höchsten Gebotes zu finden ist, nämlich Mk 12,28-34; Mt 22,34-40 und Lk 10,25-28, erzählen Kinderbibeln zu allermeist nach Lukas. Der Grund dafür ist, dass bei Lukas die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten unmittelbar mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter verknüpft sind; und diese berühmte Geschichte ist für einen Kinderbibel-Kanon so etwas wie ein Muss. Sie darf in der Auswahl der Erzählungen nicht fehlen. Das hat aber auch zur Folge, dass Kinderbibeln oft die negative Darstellungsweise des Schriftgelehrten in der Lukas-Fassung übernehmen.16  Denn hier wie im Übrigen auch bei Matthäus wird er als einer dargestellt, der in versucherischer Absicht Jesus anspricht und auf die Probe stellen will (Lk 10,25; vgl. Mt 22,35).17  Aber nicht nur das. In Kinderbibeln finden sich gelegentlich über den Wortlaut bei Lukas hinaus noch zusätzliche Charakterisierungen, die den Schriftgelehrten in ein schlechtes Licht stellen. So heißt es in der „Die Kinderbibel“ von Eckart zur Nieden: „Zu Jesus kam eines Tages ein Mann, der sich in den heiligen Schriften sehr gut auskannte. Er war stolz darauf und wollte sein Wissen gerne zeigen. Deshalb hatte er sich eine Frage ausgedacht. Er meinte: Wenn Jesus auf diese Frage antwortet, kann ich ihm sicherlich einen Fehler nachweisen. ‚Meister‘, fragte er scheinheilig, ‚was muss ich tun, damit ich ewiges Leben bei Gott habe?‘“18   Oder in der Kinderbibel von Murray Watts wird der Schriftgelehrte in gegnerischer Haltung als Jesus drängend und „selbstzufrieden“ dargestellt.19 

Eine auch immer wieder empfohlene Kinderbibel, die ausdrücklich Mk 12,28-34 wiedergibt, ist Rainer Oberthürs „Die Bibel für Kinder und alle im Haus“.20  In einem erläuternden Text dazu stellt er die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten auch in den Zusammenhang des „Ersten Testament[s]“ und spricht die Problematik oft negativer Darstellung von Schriftgelehrten und Pharisäern an mit dem Ziel, die Hintergründe der Polemik zu nennen und zu einer differenzierten Darstellung zu kommen. So heißt es unter anderem: „Besonders den Pharisäern stand Jesus so nah wie keiner anderen religiösen Gruppe.“ Streitigkeiten könne man „vergleichen mit einem Streit in der Familie, wo man ja auch mal verschiedener Meinung ist, obwohl man sich sehr nah ist.“21

2.3.     Erzählvorschlag zu Mk 12,28-34

Im Folgenden findet sich ein Erzählvorschlag zur Frage des höchsten Gebotes nach Mk 12,28-34 mit Blick auf Kinder und Jugendliche. Das Gesagte kann aber auch als Hintergrund in anderen Zusammenhängen Verwendung finden. Ich gebe den biblischen Text in einer erweiterten Erzählweise wieder, in die erläuternde Aussagen einfließen. Auch auf den vorhergehenden Bibelabschnitt wird Bezug genommen, ohne den der Anfang von Mk 12,28-34 nicht verständlich wäre.

Erzählvorschlag:

Eines Tages hatten Jesus und Angehörige der Gruppe der Sadduzäer eine Diskussion über die Frage der Auferstehung von den Toten. Zur Lehre der Sadduzäer gehörte, dass es keine Auferstehung der Toten gebe. Jesus sieht das anders. Er vertritt die Überzeugung, dass Gott den Menschen auch über den Tod hinaus verbunden bleibt und sie zu ihm kommen.
Das war auch die Überzeugung der Pharisäer. Einer ihrer Toragelehrten hatte der Diskussion mit den Sadduzäern zugehört. Jetzt ging er auf Jesus zu. Denn es hatte ihm sehr gefallen, wie Jesus gesprochen und seine Überzeugung mit Blick auf die Tora dargelegt hatte. Darum wollte er mit Jesus auch noch über eine andere Frage, die ihn selbst beschäftigte, ins Gespräch kommen. Und so fragte er Jesus: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“
Jesus begann seine Antwort mit dem „Schema Jisrael“, das heißt „Höre Israel“. Das ist das grundlegende Glaubensbekenntnis aller Juden zu dem einen-einzigen Gott, der sein Volk Israel aus der Unterdrückung in Ägypten befreit hat und der auch weiterhin als Befreier wirksam ist.
Also antwortete Jesus: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre Israel, der Herr unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von all deinen Kräften.‘“

Dieses Gebot, den einen-einzigen Gott zu lieben mit allem, was man ist und hat, findet sich in der Tora. Und zwar in 5. Mose 6,4-5.
Und dann verband Jesus mit dem Gebot der Liebe zu Gott noch ein weiteres: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Auch dieses Gebot steht in der Tora, und zwar in 3. Mose 19,18. Mit Blick auf beide Gebote, der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten, kommt Jesus zu dem Schluss: „Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“

Auch jetzt gefällt dem Toragelehrten Jesu Antwort sehr. Er freut sich, fühlt sich Jesus nah und sagt zu ihm: „Rabbi, du hast wahrhaftig recht geredet!“ Und dann stimmt er noch einmal ein in Jesu Worte und bringt seine Übereinstimmung zum Ausdruck: „Er [Gott] ist nur einer, und ist keiner außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Auch Jesus fühlt sich dem Toragelehrten nahe und verbunden. „Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“

„Nicht fern“, das heißt: Du stehst ihm nahe.22  Ich verstehe das so: Du stehst schon in Verbindung mit Gottes kommendem Reich; Gottes rettende Nähe bestimmt und bewegt schon jetzt dein Leben.
Nach diesem Gespräch wagte es erst einmal keiner mehr eine Frage zu stellen.

1  Murray Watts (Text), Helen Cann (Illustrationen), Die große Kinderbibel, Gießen 42007, S. 236.
2  Renate Schupp (Text), Milada Krautmann (Illustrationen), Die Ostergeschichte, Lahr 2014, o. S.
3  S. Peter Kliemann, Glauben ist menschlich, Stuttgart 102001, S. 96ff.
4  S. Hans-Friedrich Weiß, Art. Pharisäer I, in: TRE, Bd. 26 (Studienausgabe), Berlin, New York 2000, S. 474.
5  Ders., a.a.O., S. 480.
6 David Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg 42006, S. 53.
7  Ebd.
8  Hans-Friedrich Weiß, Art. Pharisäer I, in: TRE, Bd. 26 (Studienausgabe), Berlin, New York 2000, S. 476.
9   Ders., a.a.O., S. 476f.
10 Günther Baumbach, Art. γραμματεὑς, grammateus, in: EWNT, Bd. 1, Stuttgart, Berlin, Köln 21992, Sp. 626.
11  Hans-Friedrich Weiß, Art. Schriftgelehrte I, in: TRE, Bd. 30 (Studienausgabe), Berlin, New York 2006, S. 515.
12  Volker Menke, Nur durch die Wurzel blüht auch ihr!, Berlin 2014, S. 341.
13  Peter Fiedler, Christen – Juden. Analysekriterien zum „Lernprozess Christen Juden“, bearb. u. erg. von Georg Hilger u. George Reilly, in: Christen und Juden von den Wurzeln her verbunden, Aachen 21989, S. 50.
14 Siehe dazu auch die Lesepredigt von Melanie Mordhorst-Mayer in dieser Arbeitshilfe.
15 Peter Fiedler, Christen – Juden, a.a.O..
16  Angesprochen sei, dass bei Lk der erzählerische Kontext insgesamt ein anderer ist als bei Mk und Mt. Und ein eigenes Thema wäre, ob die Überschrift „Der barmherzige Samariter“, die sich so oder ähnlich in Bibeln und Kinderbibeln für den Text Lk 10,25-37 findet, wirklich den inhaltlichen Fokus trifft. Denn es geht in ihm um die Tora, konkret hier um die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten, die für alle in dem Text Agierenden gemeinsame Grundlage ist.   
17 S. Peter Fiedler, Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2006, S. 338, einschließlich Anm. 102.
18  Eckart zur Nieden (Text), Ingrid und Dieter Schubert (Illustrationen), Die Kinderbibel, Wuppertal 2004 (1. Sonderausgabe), S. 311.
19  Murray Watts (Text), Helen Cann (Illustrationen), a.a.O., S. 268.
20 Rainer Oberthür, Die Bibel für Kinder und alle im Haus, mit Bildern der Kunst ausgewählt und gedeutet von Rita Burrichter, München 42006, S. 224f. Insgesamt ist dieser Kinderbibel in ihren Texten abzuspüren, dass sie Inhalten und Erkenntnissen des christlich-jüdischen Dialogs gerecht werden will.
21  Ders., a.a.O., S. 225. Befremdlich allerdings klingt hier eine Aussage wie „Doch insgesamt waren für Jesus die Juden Schwestern und Brüder im Glauben“ (a.a.O.); auf Grund dieses Satzes könnte man unrichtigerweise meinen, Jesus selbst sei kein Jude gewesen.

Überblick

Zielgruppe: Alle, die mit der Weitergabe von biblischen Texten befasst sind, hier insbesondere Mitarbeiter/innen von Kinder-/Jugendgottesdiensten; Erzieher/innen; Religionslehrkräfte

Alternative Zielgruppen: Prädikant/inn/en, Lektor/inn/en, Pastor/inn/en, Diakone/-innen

Einsatzgebiete: Kindergottesdienst, Jugendgottesdienst,  Gottesdienst, Konfirmandenarbeit, Kinderbibeltag, Kindergarten, Bibelgesprächskreis, Religionsunterricht

Material: Hintergrundinformationen; Erzählvorlage

Zeitumfang der Erzählung: ca. 10 Minuten, eines Fortbildungsseminars: ca. 90 Minuten

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Foto: Michaela Pschorr/fotolia.de

Der Autor

Dr. Volker Menke ist Superintendent des Kirchenkreises Peine in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers.
(Stand: 2016)

Weiterführende Literatur

  • Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1998.
  • Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen, revidierte Fassung von 1984, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1999.
  • Guido Baltes, Jesus, der Jude, und die Missverständnisse der Christen, Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH, Marburg a. d. Lahn, 2013.
  • Günther Baumbach, Art. γραμματεὑς, grammateus, Sekretär, Schriftgelehrter, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT), hrsg. von Horst Balz und Gerhard Schneider, Bd. I, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, Berlin, Köln 21992, Sp. 624-627.
  • Günther Baumbach, Art. Φαρισαῖος, Pharisaios, Pharisäer, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament (EWNT), hrsg. von Horst Balz und Gerhard Schneider, Bd. III, W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, Berlin, Köln 21992, Sp. 992-997.
  • Peter Dschulnigg, Das Markusevangelium (ThKNT 2), W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 2007.
  • Peter Fiedler, Christen – Juden. Anregungen und Kriterien zu einem angemessenen Sprechen von der jüdischen Tradition, vom Judentum und vom Verhältnis Christen – Juden, bearbeitet und ergänzt von Georg Hilger und George Reilly, in: Christen und Juden von den Wurzeln her verbunden. Leitlinien, Kriterien, Anregungen und Empfehlungen für die Verkündigung, die Erwachsenenbildung und den Religionsunterricht, Katechetisches Institut des Bistums Aachen, Aachen 21989.
  • Peter Fiedler, Das Matthäusevangelium (ThKNT 1), W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 2006.
  • David Flusser, Jesus (rm 50632), überarbeitete Neuausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 42006.
  • Peter Kliemann, Glauben ist menschlich. Argumente für die Torheit vom gekreuzigten Gott, Calwer Verlag, Stutgart 102001.
  • Volker Menke, Nur durch die Wurzel blüht auch ihr! Kinderbibeln im Lichte des christlich-jüdischen Dialogs (SKI Bd. 27), Institut Kirche und Judentum, Zentrum für Christlich-Jüdische Studien an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2014.
  • Eckhart zur Nieden (Text), Ingrid und Dieter Schubert (Illustrationen), Die Kinderbibel, Brockhaus Verlag, Wuppertal 2004 (1. Sonderausgabe).
  • Rainer Oberthür, Die Bibel für Kinder und alle im Haus, mit Bildern der Kunst ausgewählt und gedeutet von Rita Burrichter, Kösel-Verlag, München 42006.
  • Jakob J. Petuchowski, Clemens Thoma, Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung. Hintergründe – Klärungen – Perspektiven, neu bearbeitet von Clemens Thoma, Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1997.
  • Renate Schupp (Text), Milda Krautmann (Illustrationen), Die Ostergeschichte, Verlag Ernst Kaufmann, Lahr 2014.
  • Murray Watts (Text), Helen Cann (Illustrationen), Die große Kinderbibel, Titel der englischen Originalausgabe: The Lion Bible for Children, Brunnen Verlag, Gießen 42007.
  • Hans-Friedrich Weiß, Art. Pharisäer I und II, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Studienausgabe, Bd. 26, Walter de Gruyter, Berlin, New York 2000, S. 473-485.
  • Hans-Friedrich Weiß, Art. Schriftgelehrte I und II, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Studienausgabe, Bd. 30, Walter de Gruyter, Berlin, New York 2006, S. 511-520.