2.2. Vergleich
Wenn die Einheit als Seminar gestaltet wird, wäre es lohnenswert, den Wortlaut dieser Passage aus verschiedenen Kinderbibeln mit dem biblischen Text zu vergleichen. Leitfragen könnten sein: Wie wurde der Schriftgelehrte hier dargestellt? Inwiefern wurde der biblische Text in den Nacherzählungen verändert?
Zu beachten ist allerdings, dass sich Mk 12,28-34 und damit die wohl positivste Darstellung eines Schriftgelehrten im Neuen Testament in der Regel nicht in Kinderbibeln findet! Von den drei Fassungen, in denen in den Evangelien die Thematik des höchsten Gebotes zu finden ist, nämlich Mk 12,28-34; Mt 22,34-40 und Lk 10,25-28, erzählen Kinderbibeln zu allermeist nach Lukas. Der Grund dafür ist, dass bei Lukas die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten unmittelbar mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter verknüpft sind; und diese berühmte Geschichte ist für einen Kinderbibel-Kanon so etwas wie ein Muss. Sie darf in der Auswahl der Erzählungen nicht fehlen. Das hat aber auch zur Folge, dass Kinderbibeln oft die negative Darstellungsweise des Schriftgelehrten in der Lukas-Fassung übernehmen.16 Denn hier wie im Übrigen auch bei Matthäus wird er als einer dargestellt, der in versucherischer Absicht Jesus anspricht und auf die Probe stellen will (Lk 10,25; vgl. Mt 22,35).17 Aber nicht nur das. In Kinderbibeln finden sich gelegentlich über den Wortlaut bei Lukas hinaus noch zusätzliche Charakterisierungen, die den Schriftgelehrten in ein schlechtes Licht stellen. So heißt es in der „Die Kinderbibel“ von Eckart zur Nieden: „Zu Jesus kam eines Tages ein Mann, der sich in den heiligen Schriften sehr gut auskannte. Er war stolz darauf und wollte sein Wissen gerne zeigen. Deshalb hatte er sich eine Frage ausgedacht. Er meinte: Wenn Jesus auf diese Frage antwortet, kann ich ihm sicherlich einen Fehler nachweisen. ‚Meister‘, fragte er scheinheilig, ‚was muss ich tun, damit ich ewiges Leben bei Gott habe?‘“18 Oder in der Kinderbibel von Murray Watts wird der Schriftgelehrte in gegnerischer Haltung als Jesus drängend und „selbstzufrieden“ dargestellt.19
Eine auch immer wieder empfohlene Kinderbibel, die ausdrücklich Mk 12,28-34 wiedergibt, ist Rainer Oberthürs „Die Bibel für Kinder und alle im Haus“.20 In einem erläuternden Text dazu stellt er die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten auch in den Zusammenhang des „Ersten Testament[s]“ und spricht die Problematik oft negativer Darstellung von Schriftgelehrten und Pharisäern an mit dem Ziel, die Hintergründe der Polemik zu nennen und zu einer differenzierten Darstellung zu kommen. So heißt es unter anderem: „Besonders den Pharisäern stand Jesus so nah wie keiner anderen religiösen Gruppe.“ Streitigkeiten könne man „vergleichen mit einem Streit in der Familie, wo man ja auch mal verschiedener Meinung ist, obwohl man sich sehr nah ist.“21
2.3. Erzählvorschlag zu Mk 12,28-34
Im Folgenden findet sich ein Erzählvorschlag zur Frage des höchsten Gebotes nach Mk 12,28-34 mit Blick auf Kinder und Jugendliche. Das Gesagte kann aber auch als Hintergrund in anderen Zusammenhängen Verwendung finden. Ich gebe den biblischen Text in einer erweiterten Erzählweise wieder, in die erläuternde Aussagen einfließen. Auch auf den vorhergehenden Bibelabschnitt wird Bezug genommen, ohne den der Anfang von Mk 12,28-34 nicht verständlich wäre.
Erzählvorschlag:
Eines Tages hatten Jesus und Angehörige der Gruppe der Sadduzäer eine Diskussion über die Frage der Auferstehung von den Toten. Zur Lehre der Sadduzäer gehörte, dass es keine Auferstehung der Toten gebe. Jesus sieht das anders. Er vertritt die Überzeugung, dass Gott den Menschen auch über den Tod hinaus verbunden bleibt und sie zu ihm kommen.
Das war auch die Überzeugung der Pharisäer. Einer ihrer Toragelehrten hatte der Diskussion mit den Sadduzäern zugehört. Jetzt ging er auf Jesus zu. Denn es hatte ihm sehr gefallen, wie Jesus gesprochen und seine Überzeugung mit Blick auf die Tora dargelegt hatte. Darum wollte er mit Jesus auch noch über eine andere Frage, die ihn selbst beschäftigte, ins Gespräch kommen. Und so fragte er Jesus: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“
Jesus begann seine Antwort mit dem „Schema Jisrael“, das heißt „Höre Israel“. Das ist das grundlegende Glaubensbekenntnis aller Juden zu dem einen-einzigen Gott, der sein Volk Israel aus der Unterdrückung in Ägypten befreit hat und der auch weiterhin als Befreier wirksam ist.
Also antwortete Jesus: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre Israel, der Herr unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von all deinen Kräften.‘“
Dieses Gebot, den einen-einzigen Gott zu lieben mit allem, was man ist und hat, findet sich in der Tora. Und zwar in 5. Mose 6,4-5.
Und dann verband Jesus mit dem Gebot der Liebe zu Gott noch ein weiteres: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Auch dieses Gebot steht in der Tora, und zwar in 3. Mose 19,18. Mit Blick auf beide Gebote, der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten, kommt Jesus zu dem Schluss: „Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“
Auch jetzt gefällt dem Toragelehrten Jesu Antwort sehr. Er freut sich, fühlt sich Jesus nah und sagt zu ihm: „Rabbi, du hast wahrhaftig recht geredet!“ Und dann stimmt er noch einmal ein in Jesu Worte und bringt seine Übereinstimmung zum Ausdruck: „Er [Gott] ist nur einer, und ist keiner außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Auch Jesus fühlt sich dem Toragelehrten nahe und verbunden. „Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“
„Nicht fern“, das heißt: Du stehst ihm nahe.22 Ich verstehe das so: Du stehst schon in Verbindung mit Gottes kommendem Reich; Gottes rettende Nähe bestimmt und bewegt schon jetzt dein Leben.
Nach diesem Gespräch wagte es erst einmal keiner mehr eine Frage zu stellen.